Seelennester

2013

  • seelennest1.jpg
  • seelennest2.jpg
  • seelennest3.jpg
  • seelennest4.jpg

Von der Leidenschaft, nichts zu schaffen.

Ich nenne sie „Nichtsumärmel“, und auch „Seelennester“.

Ich schaffe Leere, indem ich einen geformten Klumpen Lehm aus einem ihn umhüllenden löchrigen Gipsmantel herausklaube und so der Leere Raum gebe.

Wahrzunehmen ist Undefiniertes, das einem an Vieles erinnert, ohne es zu sein.
Innenräume tun sich auf. Ahnungen.
Man fühlt sich unbehaust zuhause.

Renate Flury. Existenzielle Formen.

Renate Flury hat alles auf eine Karte gesetzt, - die Kunst. Ihr ganzes Leben hat sie darauf ausgerichtet, Objekte und Bilder zu schaffen, die sich der Konvention des Nützlichen entziehen. Im Zentrum ihres Schaffens entstanden und entstehen Objekte, die nach allgemeinem Verständnis keinen Sinn machen, an denen sich aber unabwendbar die Sinnfrage kristallisiert.

Im Verlauf der Jahre haben sich Renate Flurys Ausdrucksmittel verändert, manchmal aus freien Stücken, manchmal aber auch den Zwängen des Lebens gehorchend. Der Kern des Schaffens ist aber der gleiche geblieben. Im Zentrum der Arbeit stand und steht die Beschäftigung mit dem Körper. Als junge Frau war sie Tänzerin und nutzte ihren eigenen Körper als Ausdrucksmittel. Später, als Bilderhauerin, schlug sie Körperteile aus dem Stein: Zungen, Fusspaare, Kniescheiben, Fersenbeine. Bei diesen Skulpturen war die Körperlichkeit des Materials tragender Teil des Ausdrucks. Heute formt Renate Flury amorphe Gipsobjekte, in denen die Verbindung zum menschlichen Körper zwar nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar ist, die aber noch immer ganz aus einem unmittelbar körperlichen Agieren und Formen heraus entstehen. Zugleich werden sie bestimmt durch die grundsätzliche Beschäftigung mit der Frage, was denn der Körper sei.

Ausgangspunkt für diese neusten Arbeiten sind Lehmklumpen, die die Künstlerin mit blossen Händen formt: Sie feuchtet sie an, knetet und kneift sie. Ihre Hände pressen, ziehen, quetschen und drehen das Material. Die Finger bohren, wühlen, glätten und hinterlassen Mulden, Krater, Kratzer. Es ist ein eigentlicher Handlehmtanz, aus dem letztendlich die Form entsteht. Die Verformung ist nicht ein kraftvoller Akt, mehr ein leidenschaftlich liebevolles Drücken der Erdsubstanz soweit die Kraft reicht. Denn der Lehm ist gleichzeitig formbar und hart. Er gibt Druck nach, widersetzt sich aber dem Formwillen der Künstlerin durch seine Sprödigkeit. Unter ihren Händen wird der Lehm zu einem Objekt, das Handgeformtes ist, aber gleichzeitig irgendwie Klumpen bleibt, halb Ungestaltetes, halb Geformtes.

Diese Klumpen sind allerdings nur ein Zwischenprodukt. Das Gedrückte, amorph Geformte wird in einem zweiten Schritt mit dünnen Schichten von Gips überzogen. Wie die Schale eines Eis legen sich die weisse Schichten über den Lehm, an bestimmten Stellen etwas dicker, an anderen nur hauchdünn. Da drückt die Künstlerin dann Löcher in die Schale und beginnt den Lehm stückchenweise aus dem Behältnis zu kratzen, bis dieses ganz leer ist. Sie klaubt und grübelt, bis von der geformten Masse nichts mehr übrig bleibt. Die Skulptur existiert nur noch als ihr Negativ.

Mit ihrer Vorgehensweise verfolgt Renate Flury eine radikale Umdeutung des Skulpturalen. Normalerweise besteht eine Skulptur aus Material und Form, die sich gegenseitig bedingen: Material nimmt zwangsläufig eine Form an und plastische Formen brauchen Material, damit sie sich manifestieren können. Bei den Gipsobjekten von Renate Flury ist nun aber das Material verschwunden. Das, was der Skulptur normalerweise Form gibt, hat sich aufgelöst, ist herausgeklaubt, zerbröselt. Übrig geblieben ist nur die Form, respektive ihr Negativ, das wie eine Erinnerung vom „Hilfsmaterial“ Gips gehalten wird. Das ursprüngliche Material lässt sich nur noch als Leerraum erfassen, als Abwesendes, als geformte Leere. Die Skulptur erweist sich als eine Erfahrung des Verschwundenen, Abwesenden, Immateriellen. Das Skulpturale muss verstanden werden als das Ergebnis eines Prozesses, in dem Form auftaucht und wieder verschwindet.

Die Arbeiten von Renate Flury stellen einige Anforderungen an die Vorstellungskraft des Publikums. Nur wer sich das Leere als Material vorstellen kann und nur wer einen Raum als Objekt zu sehen bereit ist, erkennt die ganze Ausdruckskraft der Skulpturen. Zudem füllen sich die Leerräume schnell mit vielem, das nur in unserer Vorstellung vorhanden ist. Renate Flury nennt ihre Arbeiten deshalb „Seelennester“ oder auch „Nichtsumärmel“ und weist mit diesen poetischen Umschreibungen darauf hin, dass im Leeren ihrer Skulpturen archaisch Undefiniertes haust, das an vieles erinnert, ohne es zu sein. Die Leerformen erweisen sich als Potentiale, in der sich das ganze Leben, die ganze Existenz verfangen kann.

Markus Landert